Neue Aspekte der Friedrichshainer Geschichte (2022)
Der Name
Im Jahre 1920, als Berlin mit sieben weiteren Städten, 59 Dörfern und 27 Gutsbezirken
zusammengeschlossen und territorial neu gegliedert wurde, erhielt der südlich vom
bereits vorhandenen Park Friedrichshain gelegene V. Verwaltungsbezirk dessen Namen.
Friedrichshain hieß dieser Stadtbezirk bis zum Jahre 2000. Dann wurde er zusammen mit dem
südwestlichen, auf der anderen Seite der Spree befindlichen Kreuzberg zum neuen Bezirk
Friedrichshain-Kreuzberg fusioniert.
Erstmals erschien der Name Friedrichshain im Jahre 1840, als die Berliner Stadtverordnetenversammlung
nicht ohne Hintersinn beschloss, zu Ehren der einhundertjährigen Thronbesteigung Friedrich II.
einen Hain vor dem Landsberger Tor und Königstor einzurichten. Im Volkspark, damals noch
außerhalb der Stadt
gelegen, sollte nicht nur der Bürgerstolz flanieren. Die dem Preußenkönig
zugeschriebenen Ideen wirtschaftlicher, politischer, sozialer und kultureller
Freiheit wurden auf diese Weise bei dem gerade herrschenden Hohenzollern
Friedrich Wilhelm IV. angemahnt. 1846 bis 1848 wurde der Park von Arbeitslosen hergerichtet.
Am 22. März 1848 fanden in seinem südwestlichen Gelände die Opfer der Revolution
ihre letzte Ruhe. Unweit von dem am 17. August 1848 im Park errichteten Denkmal für Friedrich II.
erinnern die Kämpfer für eine deutsche Republik an die nicht verwirklichten
Freiheiten. Der Friedrichshain wurde vom Hain für den Monarchen zu einem Symbol
der Revolution. Schwarz-Rot-Gold war die Idee des Parks. Rot war schon bald die
Farbe dieser in den folgenden Jahren immer mehr von Handwerkern und Kaufleuten,
vor allem aber von Arbeitern bewohnten Gegend.
Von der Vorstadtgegend zum Stralauer Viertel
Kennzeichnend für die Geschichte des Berliner Ostens waren urbane Entwicklungsrückstände
infolge einer Jahrhunderte langen Konservierung des ländlichen Charakters und der
landwirtschaftlich-gärtnerischen Nutzungen des Gebietes östlich des heutigen
Alexanderplatzes. Obwohl erste Anfänge der Stralauer Vorstadt, des späteren Stralauer
Viertels und Vorgänger des Bezirks Friedrichshain, schon in das späte Mittelalter
zurückführen, begann die Ausdehnung der städtischen Bebauung auf das Territorium
des heutigen Ortsteils Friedrichshain erst im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts.
Zuvor stand bis 1703 am jetzigen Strausberger Platz die Berliner Richtstätte, der
Rabenstein. Oftmals Unschuldige wurden hier auf grausame Weise getötet. Darunter waren
angebliche Hexen und im Jahre 1510 verbrannten hier die Berliner vierzig Juden auf einem
Scheiterhaufen. 1540 wurde der Kaufmann und Sozialrebell Hans Kohlhase am Rabenstein
zu Tode gerädert.
Weitere Entwicklungshemmnisse der städtischen Erschließung waren zudem das im Osten
vor der Stadt befindliche St. Georg-Hospital für Seuchenkranke und das zur Spree hin
gelegene ungünstige Bauland feuchter, morastiger Wiesen sowie die äcker der Berliner
Feldmark, die sich in einem breiten Streifen von der heutigen mittleren Karl-Marx-Allee
nach Nordwesten bis zum Wedding hinzogen. Bis 1740 wurde der Südhang des späteren Parks
Friedrichshain noch zum Weinanbau genutzt.
Das Stralauer Viertel, das östlich vom Alexanderplatz begann, wurde nach dem kleinen
slawischen Fischerdorf Stralow auf der Halbinsel in der Spree benannt.
Dort befindet sich das älteste sakrale Bauwerk Friedrichshains, die 1464 erbaute
Dorfkirche Stralau. Das Dorf Stralow wurde erstmals 1358 urkundlich erwähnt, als es in
Berliner Besitz überging. Weitere vorstädtische Siedlungskerne im heutigen Stadtteil
Friedrichshain waren das 1591 erstmals genannte Gut Boxhagen sowie die friderizianischen
Kolonien Boxhagen (ab 1770), Friedrichsberg (ab 1782) und Klein Frankfurt (ab 1750).
Die weitgehend nur locker-vorstädtisch oder überhaupt nicht bebaute Gegend lud um 1840
zur Errichtung großer Verkehrs- und Industriebauten ein. Dominant für die Stadtentwicklung
und den Charakter des gesamten Quartiers wurde der 1842 erbaute Frankfurter Bahnhof,
das bis dahin größte Berliner Verkehrprojekt. Später hieß er Schlesischer Bahnhof und
heute Ostbahnhof. 1867 folgte ihm am damaligen Küstriner Platz ein weiterer Bahnhofsbau.
Dieses Bahnhofsviertel zog weiteren Verkehr und Industrieansiedlungen an, spie
Hunderttausende Menschen in die Stadt aus und verlieh dem Ort eine Flüchtigkeit und
Kumpelhaftigkeit, die den gehobenen Schichten zuwider war. Grundstückspreise, Mieten,
Fabriken, Wohnhäuser produzierten einen typischen Menschenschlag, der von Arbeit und
Wohnen in größter Enge geprägt war und dessen Wohnzimmer die Kneipe wurde.
Industrialisierung und Verkehrsbauten
Die Friedrichshainer Gegend wurde Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem großflächigen
Transport-, Umschlags- und Versorgungszentrum des auf dem Sprung zur europäischen
Metropole befindlichen Berlins. Güterbahnhöfe, Eisenbahnwerkstätten, der Vieh- und
Schlachthof, Speichergebäude entlang der Spree sowie Maschinenbau-, Textil-,
Tischlerei-Fabriken, Wasser- und Abwasserwerke sowie mehrere Brauereien siedelten sich
an. Nach 1860 begann das Zusammenwachsen der ländlich-vorstädtisch geprägten Ortschaften
mit dem Stralauer Viertel, das sich immer mehr nach Osten hinaus schob. Im Aufschwung der
Gründerjahre nach 1871 setzte explosionsartig die Wohnbebauung für die Arbeiterfamilien
ein, die hier unmittelbar neben ihren Arbeitsstätten wohnten. 1874 öffnete das Krankhaus
Friedrichshain, das erste städtische Krankenhaus in Berlin, zu verdanken dem Erstspender
Jean Jacques Fasquel. Die Stadtmauer entlang der Memeler Straße, der heutigen
Marchlewskistraße, und Friedenstraße fiel 1867.
Bis zur Jahrhundertwende 1900 dehnte sich das Stralauer Viertel weitgehend auf das
heutige Friedrichshainer Gebiet aus. Ein ebenfalls schon städtisch-bebautes Territorium
südlich der Frankfurter Allee um den Boxhagener Platz und den Traveplatz, begrenzt von
der Niederbarnimstraße und der Simplonstraße, war noch nicht Berliner Stadtgebiet und
kam 1920 zunächst zum Bezirk Lichtenberg und erst 1938 nach Friedrichshain. Es handelt
sich um die alten Ortsteile Boxhagen und westliches Friedrichsberg. Die Stralauer
Halbinsel östlich des Markgrafendamms lag ebenfalls außerhalb Berlins und wurde 1920
dem Bezirk Friedrichshain zugeordnet. Der Viehhof, seit 1920 zunächst auf
Friedrichshainer Terrain gelegen, wechselte 1938 nach Prenzlauer Berg. Von 1933 bis 1945
hieß der Verwaltungsbezirk Friedrichshain „Horst-Wessel-Stadt“ bzw. „Horst Wessel“,
benannt nach einem fanatisch-demagogischen SA-Führer, der 1930 von Kommunisten
erschossen worden war und den die Nazis zu einer Kultfigur gemacht hatten.
Wohnquartier der kleinen Leute
Friedrichshain war schon im Kaiserreich das Herz des Berliner Ostens. Damals hieß der
Stadtteil östlich des Alexanderplatzes noch Stralauer Viertel, in dem die hier geborenen
Berliner lange Zeit eine Minderheit blieben. Die richtigen Berliner waren die
zugewanderten deutschen, polnischen und jüdischen Landarbeiter-, Handwerker- und
Kaufmannsfamilien aus Ost- und Westpreußen, Schlesien, Pommern und Brandenburg, die am
Schlesischen Bahnhof ausstiegen und dann in diesem Stadtteil ihr Glück und ihr Auskommen
suchten. Die Verbindung der Mietskasernen mit ihren Hinterhof- und Kellerwohnungen und
den Fabrikbauten auf engstem Raum ließen ein Stadtquartier heranwachsen, das im
20. Jahrhundert als Arbeiter- und Industriebezirk in die Geschichte einging. Etwa
60 % der Einwohner zählten in den 1930er Jahren zur Arbeiterschaft. Dem entsprach
die politische Entwicklung. Die Sozialdemokratie war hier zu Hause. Bis zum ersten
Weltkrieg blieb sie die stärkste politische Kraft im Stralauer Viertel. In der Weimarer
Republik war Friedrichshain neben dem Wedding und Neukölln eine der kommunistischen
Hochburgen in Berlin, die jedoch 1933 im Naziterror liquidiert wurde, aber auch schnell
in sich zusammenfiel.
Friedrichshain war seit 1920 mit einer Fläche von 9,095 km2 der kleinste der zwanzig
Berliner Verwaltungsbezirke. Sein Territorium war schon seit Jahrzehnten weitgehend mit
Wohnhäusern, Fabriken und Bahnanlagen bebaut. Damals hieß städtisches Wachstum nicht
weitere Neubebauung, sondern Verdichtung. Wo ein Körper war, konnte auch ein zweiter
sein. Schlafburschen sorgten dafür, dass das Bett in den kleinen Arbeiterwohnungen
niemals kalt wurde. Mit 346.264 Einwohnern komprimierte sich der Bezirk 1939 schließlich
an die Spitze aller Berliner Bezirke. 2021 leben auf dem selben Raum etwa 137.300 Menschen.
Alfred Döblin, Heinrich Zille, Karl Marx, der Hauptmann von Köpenick Wilhelm Voigt,
Reichspräsident Friedrich Ebert, der spätere DDR-Kulturminister Johannes R. Becher,
Inge Meysel, der christliche Anarchist Theodor Plivier, der Nachkriegs-Al Capone
Werner Gladow, Reichsaußenminister Gustav Stresemann, der Historiker Friedrich Meinecke,
Armin-Müller Stahl, der Pazifist Ernst Friedrich, Tamara Danz und
die Ché-Guevara-Freundin Tamara Bunke lebten hier. Rainer Eppelmann, Hans Modrow und
Günter Schabowski schrieben an der jüngsten Geschichte Deutschlands mit. Aber vor allem
war dies bis zum Ende des 20. Jahrhunderts ein Stadtteil der kleinen Leute und eben
nicht der Oberschicht. John Stave beschrieb in seinem Klassiker „Stube und Küche“
von 1987 mit inzwischen sechs Auflagen den Menschenschlag des Friedrichshainers und
seine Lebensumstände im 20. Jahrhundert. Und Gerhard Holtz-Baumert, der Autor des beliebten
DDR-Kinderbuches „Alfons Zitterbacke“ (1958), beschrieb in „Die pucklige Verwandtschaft. Aus
Kindheit und Jugend in Berlin O 17 und Umgebung“ (1985) seinen Lebensalltag in Friedrichshain in
einer ernsten Zeit von 1933 bis 1949 mit viel Humor.
Identitätsverlust
Die historische Kernsubstanz des alten Friedrichshains um den Strausberger Platz und Schlesischen
Bahnhof (1950: Ostbahnhof) aus dem 18. und 19. Jahrhundert fiel dem deutschen "Endsieg" zum Opfer.
Allein die Fortsetzung des verbrecherischen Krieges nach dem 1. Februar 1945 kostete Friedrichshain
schätzungsweise zwei Drittel seiner im gesamten II. Weltkrieg verlorenen Bausubstanz. Einige Reste der
Altbebauung tilgte die sozialistische Nachkriegsstadtplanung.
Friedrichshain wurde in den 1950er bis 1970er Jahren sozial, politisch und mental in ein grünflächiges, privilegiertes
westliches Neubauviertel und in ein östliches Altbaugebiet tief gespalten. Aus dem Neubaugebiet kam der Nachwuchs der
DDR- und Nachwende-Eliten, wie Hermann Henselmann und Maybrit Illner. Aus der Schreinerstraße und aus der Proskauer
Straße kamen die jüngsten Mauertoten Lothar Schleusener (1953-1966) und Jörg Hartmann (1955-1966). Hier trafen Welten
aufeinander.
Diese Spaltung dauerte bis zum Ende des 20. Jahrhunderts an. In den 2020ern unterscheidet sich Friedrichshain
in verschiedene Soziotope. Das grün-konservative Stralau isolierte sich in eine (Halb-)Insel der Wohlständigkeit,
Boxi- und RAW-Gegend sind der touristische Tempel aller Berlin-Besucher unter 29, der Nordkiez hält den Rekord der höchsten
Besiedlungsdichte in Berlin mit mehr als 28.000 Einwohner/km2 und ist immer noch die Hochburg einer längst
ausgestorbenen Hausbesetzerszene und der Neubau-Westen Friedrichshains einschließlich der Stalinbauten wurde zum Mischgebiet
von Studenten-WGs, jungen Familien, Singles, Alteingesessenen und anderen Normalos.
Seit 1990 wurde der Bezirk von Immobilien-Haien, Spekulanten, Unternehmern, Politikern und Beamten aus dem Westen, mit
Unterstützung von örtlichen SPD-, PDS-, Grünen- und CDU-Bürokraten, konsequent deindustrialisiert und verschachert.
Hausbesetzer wie Freke Over (PDS) und andere Glücksritter der Spaßgesellschaft profitierten von dieser Entwicklung.
Sie gaben ihre privat-kommerziellen Unternehmungen als "alternativen Ansatz" zur Abschaffung des Kapitalismus aus. Dieser
"Urknall" der neuen, kreativ-selbstbestimmten Lebensweise in der Mainzer Straße vollendete sich Anfang November 1990
zwangsläufig vom Happening zur Straßenschlacht.
Zwar verdeckte die Konfrontation zeitweilig, dass die Eliten aus Staat, Wirtschaft, Parteien und Alternativszene lieber
einträchtig zusammenarbeiten, aber kein Ereignis konnte besser den Beginn des Zeitalters einer neuen Intoleranz
einläuten. Rücksichtslose Egomanie und Hedonismus, oberflächlich-theatraler Rollenspielkult und ein mildtätiges Herz zum
eigenen Wohlbefinden in Nebensachen eroberten den Boxhagener Platz, der seit 2000 als angesagtes Szene-Viertel in Berlin gilt.
Die mit viel Beifall aufgenommene Inszenierung des öffentlichen Lebens wendet sich unbarmherzig gegen die sozialen
Lebensgrundlagen derjenigen, die, ob Ost- oder Westdeutsche, In- oder Ausländer, nur als Komparsen in diesem Theaterstück
auftreten dürfen.
Zusammengehalten wird Friedrichshain von seinem größten Fremdkörper. Noch heute wird die Stalinallee im Bewusstsein alter
Friedrichshainer so empfunden. Deren pittoresker Charme erfuhr 1990 nach dem politischen Sieg über ihren Bauherrn eine
grandiose ästhetische Aufwertung.
In der Folge avancierte Friedrichshain einerseits zur prolligen Shopping- und Party-Meile, andererseits zum Dienstleister
vorrangig westlicher elitärer Szene-, Klub-, Studenten-, WG- und Karriere-Interessen in Berlin. Der Verdrängungsdruck auf
die ortsansässige Altbevölkerung nahm dramatische Züge an und finalisierte sich um 2020.
Im Jahr 2001 wurde Friedrichshain auch offiziell Kreuzberg angeschlossen und als ein attraktiver Standort, mit dem globale
Investoren unter Schirmherrschaft des damaligen Bürgermeisters Dr. Franz Schulz (Grüne) anstellen können, was sie wollen,
in das 21. Jahrhundert entlassen. Deshalb verlaufen heute in Friedrichshain die Grenzen nicht mehr zwischen oben und unten
oder arm und reich, sondern zwischen denen, die bei „rot“ an der Ampel stehen bleiben und der Mehrheit der Freiheitsliebenden,
die dies als eine Straftat betrachtet.
Entgegen den demagogischen Narrativen der hier regierenden echten, linken und grünen Sozialdemokraten näherten sich die
Immobilienpreise und Mieten Friedrichshains in den vergangenen beiden Jahrzehnten unaufhaltsam dem Berliner Spitzenwert
(Bezirk Mitte bei 6.877 €/m2), denn der einstige Arbeiterbezirk des Berliner Osten „zieht vor allem Junge und
betuchte Kreative an“, wie die Immobilienbranche ihre Profitgeilheit umschreibt.
Die heuchlerische kapitalistenfreundliche Politik des SPD-Grüne-Die Linke-Senats von 2016 bis 2022 zeigt sich beispielsweise
an seinem lobbyistischen Rückkauf des Blocks F-Nord der Stalinallee (Karl-Marx-Allee 133-143, ungerade) im Jahr 2020 für fast
40 Millionen € durch die Gewobag. Der Grundstückspreis lag bei diesem Kauf bei 7.900 €/m2. Zum Vergleich, der
Friedrichshainer Durchschnitts-Grundstückspreis war mit 5.195 €/m2 erheblich niedriger. Deshalb wird der Kaufpreis
des Blocks F von den angeblich „linken“ Parteien der Öffentlichkeit weiterhin verschwiegen, denn die mietpreissteigernden
Auswirkungen dieses Kaufes für alle Friedrichshainer wären allzu offensichtlich entlarvend.
Wo vor einhundert Jahren noch kräftig am Untergang des Kapitalismus gewerkelt wurde und dieser für 40 Jahre sogar verschwunden
war, genießt man heute die Freiheit, im vermeintlich besseren Teil der Welt zu wohnen, Spaß zu haben und von der nichtwestlichen
globalen Mehrheit der Erde zu verlangen, dass sie so werden soll, wie man selbst ist, eben westlich, kapitalistisch,
militaristisch, ausbeuterisch, aber moralisch vermeintlich höherstehend.
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